Kino / Nachlese

Joyland

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F/PA 23, R: Saim Sadiq, FSK: 12, 126 min
Cannes 2022: Jurypreis „Un Certain Regards“ & Queer Palm

Haider ist der jüngste Sohn einer sehr konservativen pakistanischen Großfamilie und ein Tagträumer. In Lahore leben und seine Frau mit der gesamten Familie seines Bruders auf engstem Raum zusammen und immer unter den Blicken der anderen. Während seine zielstrebige Frau Mumtaz als Kosmetikerin Geld verdient, ist er schon eine Weile arbeitslos. Er kümmert sich zwar um seine Nichten und pflegt seinen Vater – doch ohne Einkommen und ohne Nachwuchs entspricht Haider in keinster Weise den Vorstellungen seiner Familie. Als er eines Tages unverhofft doch zu einem Job kommt, ändert sich Haiders Leben schlagartig: Heimlich tritt er nachts als Background-Tänzer in der Show der charismatischen transsexuellen Tänzerin Biba auf. Aus anfänglicher Faszination entwickeln sich schnell tiefere Gefühle und Haider gerät in ein moralisches Dilemma – denn seine Familie erwartet sehnsüchtig einen Enkel von ihm, während er von seiner Freiheit träumt … Als seine Ehefrau schwanger wird, droht sein zaghafter Ausbruchsversuch zu scheitern.

Mit semidokumentarischer Qualität entwirft das epische Melodram ein vielfältiges Bild der pakistanischen Gesellschaft. Im Kampf der Figuren mit Begehren, Tradition, Männlichkeit und Familie spiegeln sich die Auseinandersetzungen um eine neue Sicht von Männlichkeit und Weiblichkeit.

Regisseur Saim Sadiq gibt mit „Joyland“ sein Spielfilmdebüt und erzählt eine mitreißende, vielschichtige, explosive Liebesgeschichte über Tradition, Familie und die eigene Freiheit.

„Es ist die Ent-Romantifizierung einer Coming of Age-Geschichte und eine Hommage an alle Frauen, Männer und Transmenschen, die unter dem Patriarchat leiden. Außerdem feiert der Film die Sehnsucht, die unglaubliche Verbundenheit und ewige Liebe schafft. Letztendlich ist es eine herzzerreißende Liebeserklärung an mein Heimatland.“ (Saim Sadiq)

Der Film läuft auch am Mi 21.02. | 19:30 Uhr im Kronenkino Zittau.


Die „Khawaja sira“ – uralte pakistanische Kultur und Identität
Die Trans-Gemeinschaft in Pakistan gehörte jahrhundertelang zum kulturellen Selbstverständnis, lange bevor das Wort „trans“ überhaupt erfunden wurde. Die Angehörigen dieser Gruppe nannten sich „khawaja sira“. Der Begriff steht für eine Geschlechtsidentität, die weder männlich noch weiblich bedeutet. Im Mogulreich waren sie hochgeachtet und geschätzt und fungierten oft als Berater. Vor der Kolonialisierung im 17. und 18. Jahrhundert waren die „khawaja sira“ in Pakistan nicht Opfer von Diskriminierung, sondern Künstler, mit denen man eine gewisse Eleganz in Verbindung brachte. Als die Briten kamen, verbot der „Criminal Tribes Act“ Homosexualität, Trans-Sein und jedes Verhalten, jede Sexualität und jedes Geschlecht, das nicht den Moralvorstellungen der Kolonialisten entsprach, also heteronormativ war. Alles andere wurde kriminalisiert. Diese Gesetze wurden nicht nur in Pakistan, sondern auch in Indien in die Verfassung übernommen. 2018 errangen die „khawaja sira“ einen wichtigen Sieg, als Pakistan Antidiskriminierungsgesetze verabschiedete, die Geschlechtsidentität als „das innerste und individuelle Selbstgefühl einer Person als Mann, Frau oder eine Mischung aus beidem oder keines von beiden“ definierten.
(Quelle: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Joyland_(Film))


Filmkritik: Kompromisslos sichtbar

Lieben und Leben unter strengster Beobachtung: Der pakistanische Film „Joyland“ wird zu Recht als Meilenstein des queeren Kinos gefeiert.
(Arabella Wintermayr, Die Zeit)

Es wäre ein Leichtes, das Debüt des pakistanischen Filmemachers Saim Sadiq als eine mutige queere Liebesgeschichte in einer streng patriarchal organisierten Gesellschaft zu beschreiben. Gleich mehrere aufmerksamkeitsheischende Buzzwords wären damit abgehakt, und Joyland einer filmischen Strömung zugeordnet, der die (mediale) Öffentlichkeit nach langer Missachtung mit vorauseilendem Wohlwollen begegnet.

Tatsächlich erzählt der erste Spielfilm aus Pakistan, der beim Festival in Cannes sowohl mit der Queeren Palme als auch dem Jurypreis in der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet worden ist, von einem verheirateten Mann, der sich in eine trans Frau verliebt. Selbstredend spielen die Gefahren, die seinem Begehren in einem auf religiöse Sittlichkeit bedachten Umfeld innewohnen, eine zentrale Rolle. Und dennoch geht dieses feingliedrige Drama weit über das hinaus, was man hinter den schalen Schlagworten vermuten könnte.

Anders ausgedrückt: Joyland ist nicht deshalb so außergewöhnlich, weil er Queerness in widrigen Umständen beleuchtet, sondern weil er konsequent den eingespielten Erwartungshaltungen zuwiderläuft, die mit einer solchen Umschreibung einhergehen. Sadiq spielt gekonnt mit ihnen, scheint bisweilen sogar auf klischierte Erzählfragmente zu setzen, nur um sie dann mit einnehmender Komplexität zu kontrastieren.

Schon in den ersten Einstellungen schwingt eine solche Absicht mit: der scheue Haider (Ali Junejo) wird ausgerechnet als „Gespenst“ in die Geschichte eingeführt, beim Spiel auf dem sonnendurchfluteten Innenhof mit seinen drei kleinen Nichten. Unter ein weißes Bettlaken gehüllt, setzt der Mann mit den weichen Zügen zum Zählen an, während die Mädchen vor ihm in die angrenzenden Wohnungen davonlaufen. Die Szene, die zunächst wie eine reizlos plakative Metapher dafür wirkt, dass Sadiqs Protagonist sein wahres Wesen versteckt halten muss, geht im Laufe der folgenden zwei Stunden in einem viel tiefergreifenden Nachsinnen über Fluch und Segen des Sichtbarseins auf.

Das eher beiläufig zu sehende Atrium steht für die Schattenseiten der Sichtbarkeit, als Ort der ständigen Beobachtung und Beurteilung. Unter den strengen Blicken seines Vaters Abba (Salmaan Peerzada) soll Haider im Hof eine Ziege schlachten, als seine Schwägerin Nucchi (Sarwat Gilani) im Krankenhaus ein weiteres Kind zur Welt bringt. In der Hoffnung, dass es mit Allahs Gunst ein gesundes Baby, vor allem aber ein Sohn wird.

Wenig später verkündet Haider am gleichen Platz, als sich die Familie zum gemeinsamen Abendessen einfindet, dass er nach langjähriger Arbeitslosigkeit endlich einen Job gefunden habe. Sehr zur Erleichterung seines Bruders Saleem (Sohail Sameer), der noch stärker über das Ansehen der mittelständischen Familie wacht, als es der durch das Alter milder gewordene Vater tut.

Haider beschreibt seine neue Position als „Theatermanager“. Dass es sich um ein erotisches Tanztheater handelt, solle er in der Nachbarschaft lieber verschweigen, rät ihm seine Familie. Dass er in Wahrheit keine leitende Tätigkeit übernommen hat, sondern Backgroundtänzer für das Showgirl Biba (Alina Khan) werden soll, behält Haider direkt für sich.

Seine neue Vorgesetzte ist die exponierteste Figur in Joyland. Obwohl Biba als trans Frau die Blicke der konservativen Kreise, die letztlich nicht nur beobachtende und beurteilende sind, sondern jederzeit in Bestrafung übergehen können, am meisten fürchten müsste, hat sie sich für die Sichtbarkeit entschieden. Sie kämpft für längere Auftritte auf der Bühne, die mehrheitlich bunte, zwischen Bollywoodeskem und Burlesque changierende Tanzeinlagen zeigt.

Lauernde Blicke überall
Haider, dem das Stillschweigen und Verstecken zum Habitus geworden sind, ist von Bibas schillernder Strahlkraft sofort fasziniert. Sadiq zeigt, wie die beiden sich vorsichtig annähern zwischen den Proben, die behelfsweise auf den verstaubten Dächern der Stadt stattfinden. Diese Szenen und die lebhaften Backstagedramen werden zu Fluchtpunkten in diesem düsteren Gesellschaftsporträt, das durch die ständige gegenseitige Überwachung in den dicht besiedelten Nachbarschaften Lahores großenteils wie ein klaustrophobisches Kammerspiel anmutet.

Das größte Überraschungsmoment Joylands besteht darin, dass Haider und seine Selbstfindung lediglich der Ausgangspunkt, nicht aber alleiniges Augenmerk der Geschichte sind. Stattdessen richtet das von Sadiq zusammen mit Maggie Briggs verfasste Drehbuch seine Aufmerksamkeit verstärkt auf Figuren, denen in einem solchen Narrativ meist kein Raum zugestanden wird.

An Mumtaz (Rasti Farooq), Haiders Ehefrau, zeigt der Film, was es heißt, unter dem strengen Blick der Familie gleichzeitig in völlige Unsichtbarkeit gedrängt zu werden. Da ihr Ehemann endlich Geld verdient, wird sie von ihrem Schwager Saleem gezwungen, ihre geliebte Stellung in einem Beautysalon aufzugeben und sich stattdessen um die Versorgung der neunköpfigen Familie zu kümmern und Nucchi bei der Erziehung der vier Kinder zu helfen. Für sie werden das kleine Atrium und die angrenzende Wohnung zu den alleinigen Aufenthaltsorten.

Trotz der häuslichen Enge und der eigentlichen Ereignislosigkeit, zu der sie verdammt ist, ist es Mumtaz‘ Perspektive, in der Joyland sowohl in erzählerischer als auch in inszenatorischer Hinsicht zu seiner vollen Intensität aufläuft. Vielsagenderweise spielt sich ein Großteil der Szenen, in denen es um ihre Wünsche, ihr Begehren geht, im Schutz der Dunkelheit ab: Ihre Annäherungsversuche gegenüber Haider, die dieser vehement abwehrt, und die nächtlichen Beobachtungen eines Nachbarn, der in einer naheliegenden Gasse offenherzige Telefongespräche führt.

Durch das vielsagende Spiel mit Licht und Schatten wird das geschlechterpolitische Machtgefälle und die damit verbundene (Un-) Sichtbarkeit illustriert: Während der scheue Haider bald auf einer Bühne steht, die von Dutzenden Handylichtern erleuchtet wird, ist die eigentlich viel toughere Mumtaz allein im titelgebenden Joyland, in einem grellen Vergnügungspark, den sie nur mit Erlaubnis der Männer an der Seite ihrer Schwägerin betreten darf, gleißendem Leuchten ausgesetzt.

Dass Joyland sich zunehmend als Ensemblefilm erweist, der nahezu allen Nebenfiguren eine psychologische Tiefe zugesteht, macht seine politische, aber niemals dogmatische Botschaft umso durchdringender: Niemand ist wahrlich glücklich in den Zwängen des Patriarchats, nicht einmal die Männer, die gleichzeitig auch von ihnen profitieren. Das verwitwete Familienoberhaupt Abbas entzieht sich in einer besonders anrührenden Szene der Zuwendung seiner einsamen Nachbarin, schlicht, weil es die Sitten nun einmal verlangen. Mit seinen meist durch Tür- und Fensterrahmen aufgenommenen statische Aufnahmen verdeutlicht die bedrohliche, voyeuristische Kamera von Joe Saades, dass es so etwas wie Privatsphäre nicht einmal in den eigenen vier Wänden, gibt. Nicht einmal für Patriarchen.

Darüber, dass Frauen und queere Menschen in einem religiös-autoritären Regime am stärksten der Unterdrückung ausgesetzt sind, macht sich der Film allerdings keine Illusionen. Die Dunkelheit hält ihr Schutzversprechen letztlich ebenso wenig ein wie die Unsichtbarkeit, was die Entwicklungen von Mumtaz‘ Schicksal am deutlichsten beweisen.

Biba, deren Bild Haider in Form eines überlebensgroßen Pappaufstellers auf einem Moped durch das nächtliche Lahore transportiert, macht es wahrscheinlich richtig: Ihre Sichtbarkeit ist Selbstbehauptung, eine risikoreiche, aber genuine Überlebenstaktik – mit diesem kraftvollen Credo entlässt Saim Sadiq sein Publikum. Dass Joyland in Pakistan teilweise verboten worden ist, weil der Film laut staatlicher Stellen gegen „Anstand und Moral“ verstoße, also selbst kompromisslos sichtbar ist, kann man als eine weitere Auszeichnung verstehen.