Vermiglio
I/F/B 24, R: Maura Delpero, FSK: 12, 119 min
Kneipe mit kleinem Speisenangebot ab 18 Uhr
Vermiglio, ein Bergdorf in den italienischen Alpen. Im Winter 1944 ist der Krieg gleichzeitig weit weg und allgegenwärtig. Attilio ist heimgekehrt, als Deserteur, von seinem sizilianischen Kameraden Pietro auf den Schultern über die Berge getragen. Ihre Ankunft bringt Unruhe in das im ewigen Rhythmus der Jahreszeiten verlaufende Leben im Dorf. Im Haus des Lehrers Cesare und seiner großen Familie beginnt das große Flüstern: Lucia, die älteste Tochter, hat sich in Pietro verliebt, der versteckt am Rande des Dorfs auf das Ende des Krieges wartet. Auch ihre Schwestern Ada und Flavia, mit denen Lucia das Zimmer teilt, sind voller Träume. Wird ihr strenger Vater sie auf die Schule in der Stadt gehen lassen? Mit welchen Geheimnissen schließt sich Cesare in sein Studierzimmer ein, wenn er die sorgsam gehüteten Schallplatten mit der Musik von Chopin und Vivaldi hört? Während die Jahreszeiten voranschreiten und die Welt sich langsam von der Tragödie des Krieges erholt, suchen die Schwestern unter dem wachen Blick ihrer Mutter Adele ihre eigenen Wege ins Leben. Es müssen neue Wege sein.
„Das Porträt eines fast verschwundenen Lebens in den Bergen… Unwiderstehlich.“ (The Hollywood Reporter)
„Eine einfühlsame, emotionale, vielschichtige Familiensaga… Ein Juwel.“ (The Guardian)
Der Film läuft auch am Mi 10.12. | 19:30 Uhr im Kronenkino in Zittau.
Pressestimmen zum Film
Familienporträt „Vermiglio“: Ein Film als Akt der Liebe
Die Boznerin Maura Delpero hat damit den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig gewonnen.
(Marian Wilhelm, Der Standard)
Alles begann mit einem Traum. Kurz nach dem Tod von Maura Delperos Vater erschien er ihr wiederholt im Traum. „Er war in das Haus seiner Kindheit zurückgekehrt, nach Vermiglio. Er war sechs Jahre alt und hatte die Beine eines Steinbocks. Er lächelte mich zahnlos an, und er trug diesen Film unter dem Arm.“
Vermiglio – der Name des Bergdorfs im Trentino mit heute knapp 1800 Einwohnern – ist nun auch der schlichte Titel des zweiten Spielfilms der Südtirolerin Delpero. Vor gut einem Jahr hatte er beim Filmfestival von Venedig seine Uraufführung und holte mit dem Großen Preis der Jury gleich einen Silbernen Löwen. Heuer sitzt Delpero selbst in der Jury.
Es ist diese persönliche emotionale Verbindung, die dem intimen Historiendrama seine Kraft gibt. „Vermiglio ist eine Seelenlandschaft, ein Akt der Liebe zu meinem Vater, seiner Familie und ihrem kleinen Dorf.“ Diese Verbindung musste sich die gebürtige Boznerin aber erst erarbeiten. Sie verbrachte viel Zeit im Haus ihrer Großeltern, studierte ihr Familienarchiv und führte Gespräche mit Einheimischen. Delpero spricht gar von einer „phylogenetischen Erinnerung“, die sie beim Drehbuchschreiben aktivierte.
Ein sanfter Patriarch
Die Figuren gleichen Delperos Vorfahren. Ihr Großvater war der örtliche Lehrer, so wie Cesare, der als sanfter Patriarch im Zentrum von Vermiglio steht. Es ist ein leises Werk, das wird gleich in der ersten Szene klar. Eine schlafende Großfamilie lässt uns als Zuschauende sanft in diese vergangene Welt hinübergleiten – bis sich ein Baby bemerkbar macht und die tägliche Arbeit beginnt.
Die Erzählung nimmt am Vorabend des Kriegsendes im Winter 1944 ihren Ausgang und erstreckt sich über vier Jahreszeiten. Es ist „die Geschichte eines Krieges ohne Bomben oder große Schlachten“. Um einen starken Plot geht es Delpero nicht, eher um das Verknüpfen kleiner Fäden zu einem Seil.
Vermiglio ist kein Sozialdrama, auch wenn die ökonomischen und politischen Umstände das Tragische dieser Welt bestimmen. Der weit entfernte Krieg greift tief in die Lebensumstände der kleinen Leute ein. Doch statt einer Anklage webt die im Dokumentarfilm erprobte Regisseurin ein feines Geflecht, das einen mit dem Gefühl des Jahres 1944 umhüllt. Sinnliche Details wie der Geruch des Feuers oder die Kälte des Schnees werden spürbar. Und die Landschaft des Trentino liefert große, lichtdurchflutete Bilder, phänomenal eingefangen vom russischen Leviathan-Kameramann Mikhail Krichman.
Keine Nostalgie, kein Kitsch
Delpero legt es nicht auf Nostalgie an und vermeidet Historienkitsch. Immer wieder werden die strengen Moralvorstellungen und das krasse Geschlechterverhältnis deutlich. Stockkonservativer Katholizismus und ein uraltes Patriarchat prägen die Rollenbilder. Cesare ist eigentlich ein gutmütiger Feingeist mit einem Grammophon und Sinn für Poesie. Doch er kann nicht aus seiner strengen, dominanten Rolle heraus. Seine Frau Adele hat trotz Armut schon zehn Kinder geboren. Nicht alle überleben – von Familienplanung ist im christlichen Italien des Jahres 1944 keine Rede. Die vielen Kinder teilen sich die wenigen Betten. Sie alle zeichnet Delperos Drehbuch als eigenständige Persönlichkeiten, die ihre Rolle innerhalb dieser Ordnung finden müssen, gelähmt vom Druck ihrer Umgebung, aber ursprünglich wie Pasolini-Figuren.
Der vielstimmige Film legt seinen Fokus besonders auf die weibliche Perspektive und drei der Töchter: die fromme Ada, die kluge Flavia und Lucia, die älteste. Alle drei kämpfen an der Schwelle zum Erwachsenwerden mit inneren Konflikten und äußeren Autoritäten. Nur eine von ihnen kann nach Trento in die höhere Schule gehen. Lucia beginnt eine in sanften Gesten aufkeimende Romanze mit dem Soldaten Pietro. Die Folgen dieser Liebe bilden die deutlichste Handlung dieses mit vielen Auslassungen erzählten, überaus sensiblen Films. Pietro stammt aus Sizilien und ist desertiert, zusammen mit einem Mann aus dem Dorf. Die Alten im Wirtshaus meinen, „weglaufen sei feige“. Doch Cesare erwidert nur: „Wenn alle Feiglinge wären, gäbe es vielleicht keine Kriege mehr.“
Vermiglio
Feinfühliges Drama um die kinderreiche Familie eines Dorflehrers in den italienischen Alpen, die im letzten Kriegsjahr 1944 mit den Veränderungen ringt, die in ihre abgeschottete Welt dringen.
(Esther Buss, Filmdienst)
„Epistolare“, brieflich, ist in Vermiglio ein wichtiges Wort. Im Schulunterricht wird es mit dem eigenen Erfahrungshorizont begreifbar gemacht. Der schwierige Begriff bedeute „jegliche Art der Mitteilung von Ereignissen oder Gefühlen“, so der Dorflehrer Graziadei. Die Kinder erzählen von angekommenen und nicht angekommenen Briefen ihrer an der Front kämpfenden Brüder und Väter. „Für mich sind auch kleine Zettel eine Briefgattung“, schreibt die Tochter des Lehrers in ihr Aufgabenheft. Sie spielt dabei auf eine Botschaft an, die ihrer älteren Schwester nach dem Kirchgang heimlich zugesteckt wurde: ein gezeichnetes Herz. Der Schreiber ist Analphabet.
In dem kargen, in den italienischen Alpen gelegenen Dorf scheint alles weit weg, was sich jenseits der Berge abspielt: der Krieg, die Stadt, der Süden. Bis Ereignisse die lokale Zeitung erreichen oder Briefe ihre Empfänger, vergehen oft Tage, manchmal sogar Wochen. Regionen, in denen Orangen wachsen, werden allein durch sehnsuchtsvolle Blicke in den Weltatlas bereist. Es ist ein überschaubarer, von äußeren Einflüssen abgeschotteter Raum, beherrscht von kirchlicher und väterlicher Autorität und dem Zyklus der Jahreszeiten.
Sieben Tassen Milch
An einem kalten Wintermorgen bricht im Haus der Familie Graziadei ein neuer Tag an. Noch schlummern alle in ihren schweren Holzbetten, teilweise zu zweit oder zu dritt. Das Baby erwacht. Im Stall melkt die älteste Tochter die Kuh. Das Ausschenken der Milch inszeniert „Vermiglio“ wie einen Abzählreim. Sieben Mal wird eine Tasse von der Mutter befüllt, bis sich alle schweigend um den Tisch versammelt haben. Am Kopfende sitzt der Vater. Als Dorflehrer, der Kinder wie Erwachsene unterrichtet, nimmt er auch außerhalb der Familie die Rolle eines milden Patriarchen ein.
Die Ankunft des desertierten Attilio (Santiago Fondevila Sancet), der von seinem Kameraden Pietro (Giuseppe De Domenico) auf den Schultern über die Berge getragen wird, bringt Unruhe in das feste Gefüge des Ortes. Die beiden Männer wirken wie innerlich erloschen; Pietro, der wortkarge Mann aus dem fernen Sizilien, wird im Heuschober versteckt und wartet dort auf das Ende des Krieges. Nicht jeder im Dorf ist damit einverstanden. Schließlich sind die eigenen Söhne noch immer im Feld. Doch allmählich verflüchtigt sich der Widerstand, und der Fremde, in den sich bald die älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) verliebt, findet Aufnahme in die Gemeinschaft.
Behutsam entfaltet die italienische Filmemacherin Maura Delpero den Mikrokosmos von dörflicher und familiärer Welt im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Doch auch wenn sich das Leben in Vermiglio noch so sehr ans Sichtbare und Konkrete hält: Jede und jeder hütet doch auch Geheimnisse. Die Kriegsheimkehrer, die sich über das Erlebte in Schweigen hüllen, „als hätte man ihnen die Zunge abgeschnitten“. Der Vater, der in seinem Zimmer zu den Klängen von Chopin einem dem Blick der Kamera zunächst noch verborgenen Ritual nachgeht. Ada, die mittlere der drei Schwestern, die heimlich masturbiert und sich mit Bußaufgaben bestraft. Und Virginia, das rebellische Mädchen aus dem Dorf. Sie raucht geklaute Zigaretten und schwärzt sich mit der Asche die Augenlider. Zwischen den beiden Mädchen entsteht eine unausgesprochene Komplizenschaft. In einer anderen Welt könnten sie gemeinsam fortgehen, vielleicht sogar ein Liebespaar werden.
Wie Frauen diese Welt erfahren
Wie schon in ihrem Debüt „Maternal“ (2019) konzentriert sich Delpero ganz auf die weibliche Erfahrungswelt. Um in dieser großen Familie seinen eigenen Wünschen und Sehnsüchten nachzugehen, muss man sich ein Versteck suchen: hinter dem Schrank, unter dem Tisch oder in der Scheune. Die Freiräume sind knapp bemessen, die Plätze bereits verteilt. Die hellwache Flavia, mit 13 die jüngste unter den Mädchen, bekommt vom Vater zusätzlichen Unterricht erteilt. Sie darf die weiterführende Schule besuchen, anders als Ada, die sich ins Kloster flüchtet. Der Mutter, von harter Arbeit, zehn Geburten und dem Verlust des jüngsten Kindes gezeichnet, bleibt hingegen keine Wahl. Kaum ist das neue Baby auf der Welt, ist sie schon wieder schwanger. Aber auch der älteste Sohn Dino, vom Vater als Nichtsnutz abgewertet, ist von der patriarchalen Ordnung betroffen.
Während das Essen in der Familie Graziadei knapp bemessen ist, gönnt sich der Vater eine neue Schallplatte – „Nahrung für die Seele“. Die Geschichte erstreckt sich über den Zeitraum eines Jahres; die Wahl fällt nicht ganz zufällig auf Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“. Der Kameramann Michail Kritschman erschafft eine Welt in meist statischen Einstellungen und matten Farben. Die imposante Bergkulisse, im Winter von einer dichten Schneedecke überzogen, wirkt zu jeder Jahreszeit einengend. Nie evozieren die Bilder das Gefühl majestätischer Erhabenheit, aber auch nicht von Nestwärme. Auch die Montage verknappt. Delpero arbeitet mit Auslassungen, ohne zu verrätseln; nichts wird ausformuliert.
Der Krieg ist vorbei
Der Film, der mit professionellen Darsteller:innen und Laien gedreht wurde, ist auch ein Film der Gesichter: Die Fragen, die sich auf ihnen abzeichnen, bleiben meist ungestellt. Als der Schnee geschmolzen ist, hat auch der Krieg sein Ende gefunden. Doch Ruhe kehrt keine ein in Vermiglio.
Wo Landleben kein Idyll ist
Mit „Vermiglio“ erzählt die Regisseurin Maura Delpero über Frauenschicksale einer Familie in den Dolomiten in Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs.
(Barbara Schweizerhof, taz)
Ein Herd, in dessen Fond man ein Feuer knistern hört. Ein Topf mit warmer Milch, aus dem heraus eine mütterliche Hand mit Schöpflöffel die Steinzeugtassen ihrer Kinder füllt. Fast glaubt man sich in einem „Trad-Wife“-Video, dessen „Land-Hausfrauen-Ästhetik“ einen der vielen Brandherde im gegenwärtigen Kulturkampf bildet.
Aber die von alten Traditionen geprägte Welt, in die die italienische Regisseurin Maura Delpero mit ihrem Film „Vermiglio“ entführt, das Leben in einem kleinen Dorf in den Trentiner Alpen in den letzten Kriegsjahren 1944 und 1945, könnte kaum weiter entfernt sein von Influencer-Kultur.
Andererseits: Delperos atmosphärische Familienerzählung zeigt auf großartig nuancierte Art und Weise, wie sehr das Leben ihrer historischen Protagonisten, und zwar sowohl der Frauen als auch der Männer, von patriarchalen Strukturen eingeschränkt wird. Und implizit folgt daraus eben auch, wie geschichtsvergessen es ist, die „handgemachten“, „gemütlichen“ oder „naturverbundenen“ Aspekte eines traditionellen bäuerlichen Lebens heutzutage als Lifestyle zu verkaufen.
Großartige Gebirgskulisse
Das Familienleben der Graziadeis, die im Mittelpunkt von „Vermiglio“ stehen, wirkt zwar einerseits sehr heimelig. Da sind die vielen Kinder, die eine Orgelflöte ergeben, sieben an der Zahl, und dann noch ein Säugling in den Armen von Mutter Adele (Roberta Rovelli). Und da ist der immer warme Herd in einem Haus inmitten großartiger Gebirgskulisse.
Andererseits lässt Regisseurin Delpero in ihren vor der realen Dolomiten-Bergwelt gefilmten Szenen stets genug Zeit, damit auch andere Aspekte ins Bild kommen. Die winterliche Kälte mit meterhohem Schnee, in der der Film beginnt, und die Enge der Räume, der Bänke, der Betten, in denen sich immer mehrere Kinder auf einmal drängeln müssen.
Diese Enge prägt den Haushalt der Graziadeis und das Dorfleben. Sie herrscht in der „Zwergschule“, in der Vater Cesare Graziadei (Tommaso Ragno) als Lehrer die Kinder allen Alters in einem einzigen Raum unterrichtet. Sie herrscht in der Kneipe, in der sich die Alten über die Frage anbrummen, ob es richtig sei, Deserteure zu beherbergen. In dieser Umgebung etwas zu tun, über das nicht wenig später getuschelt wird, fällt schwer, sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder.
Desertieren vor dem Kampf
Die Deserteursfrage kommt auf, weil noch vor Weihnachten 1944 ein Onkel der Graziadeis mit dem Sizilianer Pietro (Giuseppe De Domenico) an seiner Seite weg von der Front ins Dorf flüchtet; Pietro hat dem Onkel das Leben gerettet, sie wollen nicht mehr zurück in einen Krieg, von dem sie nicht wissen, für wen sie ihn kämpfen sollen. In der Kneipe bezeichnet ein Mann alle Deserteure als Feiglinge; Cesare entgegnet, dass es, wenn alle Feiglinge wären, auch keinen Krieg mehr gäbe.
Seine älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) hat sich da schon längst in Pietro verguckt. Im Wortsinn: Delpero zeigt, wie ein Blick genügt, um ein Feuer zu entfachen. Das erste Mal sehen sie sich in Entfernung an der Haltestelle des Dorfes, wenig später in der Kirche, wo Pietro sich nach Beginn der Messe noch leise hineinschleicht.
Er erwidert Lucias Blick und in beiläufiger Selbstverständlichkeit kommt es bald zum Austausch von Herzklopfen erregenden Nachrichten. Pietro kann als Analphabet nur zeichnen und kommt schließlich zu heimlichen Verabredungen, im Wald, im Schatten eines Stalls.
Da bahnt sich etwas an
Die sich anbahnende Liebesbeziehung wird von Lucias jüngeren Schwestern Flavia (Anna Thaler) und Ada (Rachele Potrich) neugierig überwacht. Worüber sie miteinander sprechen, fragt Flavia, die begabteste unter den Graziadei-Kindern. „Wir reden nicht viel, wir halten uns an den Händen“, antwortet Lucia. Kaum dass Pietro seine Bereitschaft erklärt, sie zu heiraten, wird Lucia auch schon schwanger.
Nach und nach stellt Delpero die drei Mädchen als die Hauptprotagonisten ihres Films heraus. Lucia und ihre Liebesgeschichte, die später eine wahrhaft schockierende Wendung nehmen wird, bildet den roten Faden dieser die vier Jahreszeiten abdeckenden Erzählung.
Ada, die auf ganz andere Weise ihre Sexualität entdeckt, gibt das gleichsam verdrängte Gegenstück dazu. Man sieht sie, wie sie sich in der Ecke hinter dem Kleiderschrank versteckt, um sich selbst zu berühren – später wird sie in einem geheimen Tagebuch damit hadern. Die Magd des Nachbarhofs, die beim Melken raucht und lacht, beeindruckt sie mehr, als diese wohl realisiert.
Sich dem Gelübde entziehen
Der Vater sieht für Ada den Werdegang einer Nonne vor, aber der Film deutet an, dass sie schließlich genug Trotz angesammelt hat, um sich dem Gelübde zu entziehen. Flavia, die jüngste von ihnen, repräsentiert ein wenig die Filmemacherin selbst.
Sie betrachtet ihre Umgebung mit unerschöpflicher Neugier, die unter anderem dazu führt, dass sie sich unterm Schreibtisch des Vaters versteckt, um diesen dabei zu beobachten, wie er, wenn er sich alleine glaubt, die Beine hochlegt und klassischer Musik lauscht. Flavia, der Musterschülerin, stellt Cesare als Einziger unter seinen Kindern die Möglichkeit einer höheren Bildung in Aussicht.
Delpero lässt all diesen Momenten ihre Zeit, ihr Kino ist eines der langen Einstellungen, das aber gleichzeitig von großer erzählerischer Ökonomie bestimmt und nie langweilig wird. Es gibt kaum Dialoge, im Tuscheln der kleinen Kinder verfestigen sich Versionen von Ereignissen, die man auch anders hat ablaufen sehen.
Heiße Wickel gegen Fieber
In einem Moment sieht man die Mutter, die mit Kohlwickel das Fieber ihres weinenden Säuglings senken will, im nächsten sitzt sie trauernd an einem metallenen Kreuz, das aus dem Schnee herausragt. Da erwartet sie auch schon das nächste.
Es scheint eine tiefe Affinität zu geben zwischen dem kargen Alltag und dem Bemühen um Realismus. Als ob man zurück müsse aufs Land, wo man die Dinge noch wahrhaft fühlen und schmecken kann, um authentisch zu sein. Aber Delpero widersteht auf meisterhafte Weise der Verführung, daraus ein bukolisches Idyll zu machen.
Stattdessen geht ihre Rekonstruktion, für die sie sich von der eigenen Familienchronik hat inspirieren lassen, der Frage nach, wie es sich von innen anfühlt. Nicht im Bezug auf Winterschnee und Sommersonne, sondern auf die herrschenden Normen und Werte, die das Leben in Ritualen, Gewohn- und Gepflogenheiten so leiten.
Cesare ist kein schrecklicher Patriarch, aber der Mann, der selbst so wenig Gelegenheit hat, seinem zweifellos reichen Innenleben zu frönen – einen kleinen Einblick gewährt eine Szene, in der er seinen Schülern die einzelnen Takte von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ vorinterpretiert –, zeigt wenig Verständnis für das Befinden seiner Kinder.
Oft scheitern moderne Filme, die den Emanzipationswillen von Frauen in alter Zeit zeigen, daran, dass sie diese mit dem aktuellen „Mindset“ ausstatten; oder sie ganz und gar als Opfer ihrer Umstände darstellen, ohne ihnen Handlungsfähigkeit zuzugestehen. Delpero gelingt die Gratwanderung: Ihre Figuren werden zu Individuen, die sich an den zeittypischen Einschränkungen auf je eigene Art und Weise reiben.